Was bleibt. Archivalien als Fenster in das Leben der Studierenden vor über 100 Jahren

Das Auditorium der Universität Göttingen, Ende des 19. Jahrhunderts - Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Ein Beitrag von Juliane Fimpel, Lara Flacke, Rayan Förster, Fabio Ringwald, Anne-Dorothea Schmiesing, Moritz Specht und Yara Zoch

Im Wintersemester 1910/1911 immatrikulierten sich 2023 Männer und 192 Frauen. Wer waren sie? Um ein Gesamtbild über die Studierenden, ihre Verbindungen untereinander sowie ihren Stand und soziale Situation zu erhalten, haben wir im Rahmen eines Seminars am Institut für Historische Landesforschung in zahlreichen Akten geforscht. Durch die Angaben aus Akten des Universitätsarchivs und insbesondere mit Hilfe der sogenannten Matrikelliste waren uns umfangreiche Untersuchungen möglich. Hier stellen wir einige unserer Ergebnisse vor; die ausführlichen Erkenntnisse präsentieren wir auf unserer Webseite.

Wer neu oder erneut an die Universität kam, musste sich in die Matrikelliste eintragen – im Wintersemester waren dies 672 Studierende. Die Mitarbeiter des Kurators erstellten dann ein Verzeichnis aller Studierenden der Universität, das gemeinsam mit dem Personalverzeichnis gedruckt wurde. „Der Akt der Immatrikulation ging bei der großen Zahl der Beteiligten etwas summarisch vor sich“, schilderte Fritz Bode. „Ich mußte seiner Magnificenz, dem Herrn Prorektor, durch Handschlag geloben, den akademischen Gesetzen in allen Stücken gehorsam sein zu wollen.“

Titelblatt des Personalverzeichnisses aus dem Wintersemester 1910/1911 – Quelle: Universitätsarchiv Göttingen

Die Höhe der Immatrikulationsgebühr war im sogenannten Manuale professorum Gottingensium, einer Art Handbuch der Verwaltung der Universität, geregelt: 18 Mark mussten von einem neu angekommenen Studierenden gezahlt werden, „welcher noch keine Universität oder noch keine solche besuchte, welche (…) mit Göttingen im Reciprocitätsverhältnisse steht.“ Neuankömmlinge, die bereits an einer der oben spezifizierten Universitäten studiert hatten, zahlten 12 Mark. Alle anderen Studierenden und diejenigen, deren Väter Professoren an der Universität Göttingen waren, mussten nichts zahlen. In Summe heißt dies: Zum Wintersemester zahlten nur 197 Studierende die volle Gebühr von 18 Mark, weitere 307 Studierende 12 Mark.

Eltern

Die Angaben der 672 neu immatrikulierten Studierenden erlauben Rückschlüsse auf deren Eltern und besonders auf den Beruf des Vaters. Von diesen hatten mindestens 140 studiert, genannt wurden beispielsweise 32 Ärzte, 59 Lehrer, 9 Anwälte und 40 Pastoren. Allerdings waren viele Väter in Berufen tätig, die nicht notwendigerweise ein Studium voraussetzen – mit 79 Erwähnungen kam besonders oft der Beruf Kaufmann vor. Außerdem wurden 23 Meister unterschiedlicher handwerklicher Berufe und 36 Landwirte genannt.

In der Tendenz gab es Zusammenhänge zwischen dem Beruf des Vaters und dem von seinem Sohn gewählten Studiengang in den Fächern Jura, Theologie und Medizin. Besonders evident waren die Zusammenhänge beim Studiengang Landwirtschaft: Bei fast der Hälfte der erfassten Studierenden war der jeweilige Vater Landwirt oder Hof- beziehungsweise Grundbesitzer. Völlig anders waren die Korrelationen bei der erst jüngst populär gewordenen Mathematik und der Chemie. Mit anderen Worten: Die naturwissenschaftlichen Studiengänge waren neu und für viele Studierende unabhängig von der familiären Disposition attraktiv. Traditionelle und mit hohem Sozialprestige verbundene Studiengänge hatten einen hohen bis sehr hohen Anteil an Studierenden, die ihren Vätern zu folgen versuchten.

Geschwister

Heinrich und Willy Klindworths Einträge in das Matrikelbuch – Quelle: Universitätsarchiv Göttingen

Im Wintersemester 1910/1911 studierten mindestens 66 Geschwisterpaare oder -trios in Göttingen. Sie kamen alle aus Deutschland, wobei 17 Paare Göttingen als Herkunftsort angaben. Zwölf Geschwisterpaare studierten das gleiche Fach und wohnten dazu im gleichen Haus; 25 Paare studierten zwar nicht dasselbe, wohnten aber zusammen. Vielfach zogen Geschwister gemeinsam in eine Wohnung, wenn sie zeitgleich ihr Studium aufnahmen. Hierzu gehörten beispielsweise die Schwestern Marie und Ursula Rotzoll aus Hannover, die eine Wohnung in der Weender Chaussee 1 bezogen und beide Neuere Sprachen studierten. Ähnlich handelten Heinrich und Willy Klindworth: Beide nahmen ihr Studium der Neueren Sprachen zum Wintersemester 1910/11 auf, sie schrieben sich hintereinander im Matrikelbuch ein, wohnten zusammen in der Planckstraße 10a und erlangten laut Matrikel am 4. Oktober 1911 einen Abschluss.

Blick auf die Planckstraße 5-7 – Quelle: Städtisches Museum Göttingen

Ausländische Studierende

Bela Pogany, Hjàlmar Brotherus, Mabel Porter und Kota Murakami gehörten zu den 146 ausländischen Studierenden, die sich zum Wintersemester 1910/1911 in Göttingen immatrikulierten.

Grafik: Anne-Dorothea Schmiesing

Der Großteil dieser Studierenden (102, also knapp 70 Prozent von ihnen) stammte aus europäischen Ländern. 40 von ihnen kamen aus dem Russländischen Reich, 22 aus Österreich-Ungarn und 9 aus Großbritannien und Irland. Größere Gruppen von Studierenden stammten zudem aus Amerika (28) sowie aus Asien (16), im letzteren Fall vermutlich vor allem aus Japan. Die nationale Herkunft steht allerdings nicht für homogene Gruppen, wie die Studierenden aus dem Russländischen Reich belegen – sie kamen aus vielen unterschiedlichen Gebieten, die heute in Polen, der Ukraine, Estland, der Russländischen Föderation und Armenien liegen.

Und wo wohnten diese Studierenden? Kurz gesagt: Sie waren über das gesamte damalige Stadtgebiet verteilt. Der Großteil wohnte – meist zur Untermiete – in Häusern außerhalb des Stadtwalls, zum Beispiel rund um die heutige Humboldtallee, den Kreuzbergring und die Goßlerstraße sowie an der Weender Landstraße, damals noch Chaussee genannt. Im Ostviertel Göttingens lebten die meisten der ausländischen Studierenden (41), besonders am Nikolausberger Weg, am Hainholzweg und an der Bühlstraße.

Es lassen sich auch kaum Muster einer Gruppenbildung erkennen: So finden sich Kombinationen wie die des französischen Schweizers Marcel du Pasquier aus Veytaux und des Japaners Takeyoschi Mori aus Kochi im Haus an der Friedrichstraße 4. In der Bunsenstraße 17 lebten ein Engländer, ein Belgier, ein Österreicher und ein Japaner unter einem Dach.

Studentische Vereinigungen

Beim Kurator waren im untersuchten Semester 17 studentische Vereine und 29 Studentenverbindungen gemeldet, in denen 765 der insgesamt 2215 Studierenden Mitglied waren. Viele studentische Vereine dienten dem gesellschaftlichen Leben von Studierenden desselben Studiengangs, zum Beispiel der Theologische Verein oder der Klassisch-Philologische Verein. Andere hatten die gemeinsame Freizeitgestaltung zum Ziel – beispielsweise unterhielt der akademische Skiclub eine Skihütte. Weitere Vereine waren der Verein studierender Frauen und der Gesangverein studierender Frauen, während die freie Studentenschaft und die Freischar Göttingen, ein universitärer Wanderverein, sowohl Frauen als auch Männer aufnahmen.

Wesentlich bedeutender als die Vereine waren die 29 Verbindungen, welche sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Allen gemein war die lebenslange Gemeinschaft. Der älteste Verbindungstyp waren die Corps, die ältere studentische Traditionen zu erhalten suchten und großen Wert auf soziale Exklusivität legten. Die Burschenschaften, nach den Corps die zweitgrößte Gruppe, legten Wert auf politische Bildung und eine deutschnationale Gesinnung. Die drittgrößte Gruppierung der Verbindungen bildeten die Turnerschaften und die Landsmannschaften. Zudem gab es die sogenannten christlichen Verbindungen, die das studentische Fechten ablehnten.

All diese Untersuchungen zeigen, wie lohnend es sein kann, mit den Akten zu arbeiten. Klischees werden so vielleicht aufgelöst und die interessanten, aber subjektiveren Eindrücke, die Briefe oder (autobiographische) Erzählungen bieten, vervollständigt.

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