Erfahrung, Fehlertoleranz und Solidarität

Foto: Heike Ernestus

Im aktuellen Schuljahr heißt es: Nur schrittweise Rückkehr der einzelnen Jahrgänge in die Klassenräume, Unterricht in halben Klassen und weiterhin Lernen zu Hause. Prof. Dr. Felicitas Macgilchrist ist Expertin für Bildung in der digitalen Welt und beobachtet, wie Schüler*innen in der Coronakrise unterrichtet werden. Die Professorin für Medienforschung an der Universität Göttingen leitet gleichzeitig die Abteilung Mediale Transformation am Georg-Eckert-Institut – Leibniz Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, einem Assoziierten Partner des Göttingen Campus. Hier beantwortet sie uns drei Fragen.

Arbeitsblätter per E-Mail, Lernvideo, Chat – hinter dem Begriff „Homeschooling“ verbergen sich viele verschiedene Wege. Welche gelungenen Beispiele kennen Sie?

Diese Frage wird oft mit Softwareprodukten beantwortet. Es gibt innovative und kreative Formate mit Padlet, Quizlet, Kahoot!, open access online Whiteboards und Etherpads zum kollaborativen Schreiben oder Aktivitäten, in denen Schüler*innen selbst Videoclips erstellen. Gelungen finde ich aber vor allem Beispiele, in denen Gemeinschaft und Beziehungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Dabei kann gerade eine transparente Kommunikation besonders wichtig sein. Ein Schulbezirk in den USA hat zum Beispiel die Eltern um gegenseitiges Verständnis gebeten: Einige Familien haben die Zeit und technischen Ressourcen, um ihren Kindern ein tieferes Eintauchen in das „remote learning“ zu ermöglichen und möchten jetzt mehr Input von der Schule. Andere Familien hingegen haben kaum freie Kapazitäten und wünschen sich eine Reduzierung der Aufgaben, ohne dass die Kinder abgehängt werden. Die Schulen versuchen, so schrieb der Schulbezirk, alle Kinder im Blick zu haben:

„It is more important than ever that we remain connected to our students and can sustain learning for all children. […] We ask for continued support and encouragement for our amazing educators who are working hard every day to deliver instruction in a new way.”

Viele Schüler*innen vermissen nicht nur ihre Klassenkamerad*innen, sondern tun sich auch schwer, über einen längeren Zeitraum alleine zu Hause zu lernen. Haben Sie einen Tipp für Schulen und Lehrer*innen, wie gemeinsames Lernen virtuell gelingen kann?

Kommunikation und Gemeinschaft sind in der Tat zentral. Einige Lehrkräfte nutzen alle möglichen Mittel, um die Verbindung aufrecht zu erhalten – vor allem zu den Schüler*innen, die die aktuelle Situation schwer finden. Einige telefonieren mit ihren Schüler*innen, weil das das beste Medium ist, den Kontakt zu halten, und ihnen eine flexible Struktur zu geben. Und elterliche Bedenken zu „zu viel Bildschirmzeit“ können erstmal weichen: Viele Teenager brauchen jetzt den virtuellen Kontakt zu ihren Freund*innen.

Allgemeiner betrachtet scheint eine Balance aus asynchronem und synchronem Lernen hilfreich zu sein. Die Forschung zur Fernlehre deutet darauf hin, dass das Asynchrone im Zentrum stehen sollte, das heißt, Lernen im eigenen Tempo, mit einem Abgabedatum oder Wochenplan, statt täglicher Anwesenheit in der Videokonferenz. Hierbei ist der Austausch mit der Lehrperson und Klassenkamerad*innen—im Chat, per E-Mail, per Telefon oder in kurzen Videocalls—eine wichtige Unterstützung. Einige regelmäßige synchrone, also zeitgleiche Treffen der Klasse in Videokonferenzen können auch unterstützen. Es ist aber sehr individuell: Gerade Schüler*innen, die auf kleine Geschwister aufpassen müssen, die zuhause einen Computer mit Eltern und Geschwistern teilen oder die sich um Familienmitglieder in Risikogruppen oder mit existentiellen Sorgen kümmern, werden von zu viel synchroner Anwesenheit belastet. Aber Kinder mit Förderbedarf haben in der aktuellen Lage einen erhöhten Bedarf an Unterstützung.

Umfangreicher digitaler Unterricht heißt aktuell für alle Beteiligten: experimentieren und Erfahrungen sammeln. Was meinen Sie, wie wirkt sich das auf den Unterricht der Zukunft aus?

Hier kann ich nur spekulieren; drei Stichwörter scheinen mir wichtig: Erfahrung, Fehlertoleranz und Solidarität. Es gibt heute viel mehr Lehrende, die viel mehr Erfahrung mit digitalen Bildungsmedien gesammelt haben als vor der Corona-Pandemie. Sie haben jetzt erfahren, welche Aufgaben oder Aktivitäten sich besonders gut digital umsetzen lassen und welche besser mit Papier oder im selben Raum gemacht werden. Vielleicht werden sie in Zukunft anders entscheiden können, ob und wie sie digitale Medien einsetzen möchten. Gerade das Herumexperimentieren bedarf einer großen Fehlertoleranz auf Seiten der Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern: Digitale Technologien funktionieren oft nicht, aber es findet sich häufig ein Workaround. Das hat bei vielen Beteiligten zu einer geduldigen, fehlertoleranten und kreativen Haltung geführt. Wenn das anhält, könnte es eine Wirkkraft auf den Unterricht der Zukunft haben.

Was allerdings viel wichtiger sein könnte, ist das Bewusstsein für die unterschiedlichen technischen Voraussetzungen der Schüler*innen. Sozio-ökonomische Ungleichheit gibt es grundsätzlich im Bildungssystem, aber in diesen Monaten ist es einigen Schulen klarer geworden, wie digitale Medien einige Schüler*innen aus dem Lernen ausgrenzen und wie (barrierearme) Medien eingesetzt werden können, um das Lernen zugänglich für alle zu gestalten. Eventuell werden dadurch zukünftig neue digitale Bildungsmedien entwickelt, die besser geeignet sind als die derzeitigen, um eine gerechte und solidarische Gesellschaft mitzugestalten.

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