Föderalismus als atmendes System

Foto: Heike Ernestus

Aktuell kontrovers diskutierte Fragen rund um Maskenpflicht, Testpflicht für Reiserückkehrer, Verbot von Großdemonstrationen und unterschiedliche Regelungen in den Ländern haben einen gemeinsamen Kern: Darf der Staat in Zeiten der Corona-Pandemie Selbstbestimmungsrechte beschneiden und was bedeutet das für unsere Demokratie? Der Göttinger Staatsrechtler Prof. Dr. Hans Michael Heinig blickt gemeinsam mit einem Kollegen von der Humboldt-Universität zu Berlin auf die vergangenen Monate. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat das Interview unter dem Titel „Stresstest für die Verfassungsordnung“ in einer Broschüre veröffentlicht, die hier zum Download zu finden ist.

„Wir haben den größten flächendeckenden Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik erlebt“, so Heinig. Allerdings sei dadurch nicht unser demokratisches System erschüttert worden. „Mit unserer Verfassung haben wir ein Instrument, das versucht, eine Balance herzustellen zwischen kollektiver Selbstregierung und individueller Selbstbestimmung. In einer so krisenhaften Lage wie der Corona-Pandemie ist doch klar, dass das Moment kollektiver Selbstregierung stärker wird und das Moment der individuellen Selbstbestimmung mehr als sonst zurücktreten muss.“ Es komme darauf an, diese Balance je nach Verlauf der Epidemie immer wieder neu zu finden.

Als ein wichtiges Signal bezeichnet Heinig, dass der Bundestag auch in Krisenzeiten darauf beharrt habe, bei grundlegenden Systementscheidungen das letzte Wort zu behalten. Wegen der Gemeinwohlgefährdung erschien es ihm zudem plausibel, das „sehr zupackende Pandemiebekämpfungsregime“ am Anfang für eine begrenzte Zeit hinzunehmen – so wie es auch die Gerichte taten. Nun plädiert er dafür, die Chancen und Stärken des Föderalismus zu nutzen – als ein atmendes System: „Es ist doch evident, dass man auf unterschiedliches Infektionsgeschehen, etwa in Bayern und im Osten Deutschlands, nicht mit einem identischen Rechtsrahmen reagieren sollte. Auch von den Grundrechten her gedacht ermöglicht der Föderalismus angemessene Flexibilität.“

Verhältnis von Politik und Wissenschaft

Auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft sagt Heinig, dass massive Eingriffe in die Grundrechte auf Basis von wissenschaftlichen Evidenzen begründet werden müssten. „Wir brauchen Wissenschaftler, die bereit sind, medial zu vermitteln welches Wissen wir haben und welches nicht und was die Wege sind, um mehr Wissen zu bekommen und was die Risiken wissenschaftlichen Irrtums sind. Dies sind zugleich die Bedingungen, unter denen Politik entscheiden und verantworten muss, welche Maßnahmen getroffen werden.“

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