Elisabeth Selbert – die Frau, die die Gleichberechtigung festschrieb

Sexismus, #MeToo oder auch die Frage, wie viele Frauen in DAX-Vorständen vertreten sind – in vielen Diskussionen wird – zu Recht – darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz die Gleichberechtigung von Männer und Frauen festgeschrieben hat. Doch die wenigsten wissen, dass wir diese Errungenschaft vor allem einer Frau, einer „Mutter des Grundgesetzes“ zu verdanken haben: Dr. Elisabeth Selbert. Heute würde sie 124 Jahre alt werden. Grund genug, um die Alumna der Georg-August-Universität genauer kennenzulernen.

Elisabeth Selbert wurde als Martha Elisabeth Rohde am 22. September 1896 in Kassel geboren. Gerne hätte sie das Mädchengymnasium besucht, später studiert und dann als Lehrerin gearbeitet, doch die finanziellen Mittel ihrer Familie waren knapp. Sie besuchte daher die Mittelschule und arbeitete nach Beendigung der Schule erst in einer Import-Export-Firma und dann während des 1. Weltkrieges im Telegrafendienst der Reichspost. Dort lernte sie 1918 ihren späteren Ehemann Adam Selbert kennen.

Adam Selbert war politisch aktiv, seit 1913 SPD-Mitglied und nahm Elisabeth auf politische Veranstaltungen mit. Ende 1918 trat auch Elisabeth der SPD ein und legte so die Grundlage für ihren weiteren Weg.

Bereits 1919 gewann sie einen Sitz in ihrem heimatlichen Gemeindeparlament in Niederzwehren, einem Stadtteil von Kassel, und arbeitete dort im Finanzausschuss. Doch ihr Thema war die Gleichberechtigung. 1920 sagte sie als Delegierte der ersten Reichsfrauenkonferenz in Kassel, „dass wir zwar heute die Gleichberechtigung für unsere Frauen haben, dass aber diese Gleichberechtigung immer noch eine rein papierne ist.“ Denn die Weimarer Verfassung legte zwar fest, dass Männer und Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte hatten, doch die Realität sah anders aus.

1920 heiratete Elisabeth Adam und bekam ein Jahr später das erste Kind mit ihm; kurz darauf folgte ein zweites. Trotzdem arbeitete Elisabeth weiterhin im Telegrafenamt und engagierte sich politisch. Sie stellte dabei fest, dass ihr eine juristische Bildung helfen würde, „politisch effizienter wirken zu können“. (Ihre Worte!) Also bereitete sie sich im Selbststudium vor und bestand 1925 als Externe das Abitur.

1926 begann sie – als einzige Frau – ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Uni Marburg, wechselte aber kurze Zeit später an die Uni in Göttingen. Hier war sie unter den mehr als 300 Studierenden an der Jura-Fakultät eine von fünf Frauen. Daran störte sich Selbert angeblich wenig, aber die damaligen Professoren schienen manchmal überfordert. So wurden sie und ihre Kommilitoninnen gebeten, den Hörsaal zu verlassen, wenn Sexualdelikte besprochen wurden.

Während Elisabeth Selbert studierte, kümmerte sich ihr Mann Adam gemeinsam mit seinen Schwiegereltern um Kinder und Haushalt. Er war überzeugt, dass es seine Frau in der Politik weit bringen würde.

Nach nur sechs Semester schloss Elisabeth Selbert ihr Studium mit Auszeichnung ab und promovierte danach zum Thema Scheidungen. Die Vorschläge, die sie in ihrer Dissertation anführte, wurden (erst) 1977 in der Bundesrepublik Deutschland durch die Eherechtsreform umgesetzt.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich in Elisabeth Selberts Leben einiges: Ihr Mann wurde als SPD-Mitglied und Kommunalpolitiker aus seinen Ämtern entfernt, war im Juni 1933 sogar für vier Wochen lang im KZ Breitenau mit anderen Bürgermeistern aus der Kasseler Umgebung inhaftiert und erhielt danach ein Berufsverbot. Elisabeth Selbert musste nun die Familie alleine ernähren. Sie legte 1934 das zweite Staatsexamen ab und stellte nur wenig später den Antrag auf Zulassung zur Anwaltschaft. Diese Eile war notwendig, da die Nationalsozialisten alle Frauen aus juristischen Berufen drängten und dazu bereits eine Gesetzesänderung der Rechtsanwaltsordnung auf den Weg brachten. Das Gesetz sah vor, dass Frauen als Anwältinnen nicht mehr zugelassen werden sollten, weil das einen „Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates“ bedeute. Von 1935 an wurden nur noch Anträge männlicher Bewerber auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft genehmigt. Am 15. Dezember 1934 – und demnach kurz vor knapp – wurde Elisabeth Selbert am Oberlandesgericht zugelassen – gegen den Willen der Rechtsanwaltskammer, gegen die Entscheidung des Gauleiters und des NS-Juristenbundes und sogar gegen den Willen des nationalsozialistischen Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes. Zwei ältere Senatspräsidenten hatten sich für Elisabeth Selbert eingesetzt und in Vertretung für den im Urlaub befindlichen Oberlandesgerichtspräsidenten ihre Zulassung unterschrieben. Damit war sie eine der letzten Frauen während der Zeit der Nationalsozialisten, die sich als Anwältinnen selbständig machen konnten und eröffnete eine Kanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht, die sie bis zu ihrem 85. Lebensjahr betrieb.

Als wäre all dies noch nicht genug, kam die eigentliche Sternstunde ab 1946. Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft war sie als einzige Frau an der Erarbeitung der Hessischen Verfassung beteiligt und wurde dann in den Parlamentarischen Rat entsandt. Die Aufgabe dieses Rats? Die 65 – 61 Männer und nur vier Frauen –, in den Landtagen der westlichen Besatzungszonen gewählten Vertreter*innen, sollten eine Verfassung für den neuen, demokratischen Staat erarbeiten. Und Elisabeth Selbert griff sofort wieder ihr Lebensthema auf: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Praktisch im Alleingang sorgte sie dafür, dass diese in unserem Grundgesetz verankert wurde. Und zwar nicht, wie es in der Weimarer Verfassung hieß, „gleiche staatbürgerliche Rechte und Pflichten“, sondern die Gleichberechtigung per se. Das war der große Kniff von ihr, denn sie wollte, dass die Gleichberechtigung als Auftrag an den Gesetzgeber, als Verfassungsgrundsatz festgeschrieben wird. Heraus kam Artikel 3 des Grundgesetzes und langfristig folgten Änderungen im Familienrecht, da einige der Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch dem Artikel 3 widersprachen, und das Gleichberechtigungsgesetz 1957.

Was Elisabeth Selberts politische Karriere betraf, so war nach der Wahl in der Parlamentarischen Rat Schluss. Sie verfehlte einen Sitz im Bundestag bei der Wahl 1949 knapp und auch die angestrebte Nominierung als erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts scheiterte 1958. Elisabeth Selbert zog sich aus der Politik zurück – und geriet beinahe in Vergessenheit. Heute sind ein Preis der Hessischen Landesregierung und einige Schulen, Straßen und Konferenzräume nach ihr benannt. Und an unserer Juristischen Fakultät gibt es seit 2015 das „Elisabeth-Selbert-Mentoring-Programm„, das juristische Wissenschaftlerinnen mittels Seminaren und Workshops vernetzt und fördert. Angemessen wäre es aber sicherlich auch, wenn Artikel 3 auch Selbert-Artikel heißen würde. Denn ohne Elisabeth Selbert wäre er wahrscheinlich nicht da.

[Update 22.09.2020, 12:25 Uhr] Im Text wurde ein Hinweis auf das Elisabeth-Selbert-Mentoring-Programm hinzugefügt.

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