Antivitamine als neue Antibiotika

Bild von Bernadette Wurzinger auf Pixabay

Antibiotika zählen zu den wichtigsten Errungenschaften der modernen Medizin. Umso schwerwiegender können die Folgen sein, wenn Bakterien gegen eingesetzte Antibiotika Resistenzen entwickeln. Weltweit sind Wissenschaftler*innen deswegen auf der Suche nach neuartigen Antibiotikaklassen. Einen vielversprechenden Medikamentenansatz verfolgt ein Forscherteam um den Göttinger Professor Dr. Kai Tittmann. Im Gespräch über den neuen therapeutischen Ansatz erläutert er, warum dabei Proteinkristalle eines bakteriellen Enzyms mit einem Antivitamin „vergiftet“ wurden.

Vitamine verbindet man gemeinhin mit etwas positivem und gesundheitsförderlichem. Was aber sind Antivitamine?

Antivitamine sind Stoffe, die eine sehr ähnliche chemische Struktur wie die eigentlichen Vitamine aufweisen und diese dadurch vom biologischen „Einsatzort“ verdrängen. Dadurch kommt es dann zu Vitaminmangelerscheinungen. Antivitamine sind aber nicht per se krankmachend, einige Antivitamine werden sogar therapeutisch eingesetzt, zum Beispiel als Blutgerinnungsmedikamente oder Zytostatika. In unserer Studie ging es um ein natürlich vorkommendes Antivitamin des Vitamin B1. Dieses Antivitamin wurde von Bakterien „erfunden“, um den Zentralstoffwechsel konkurrierender Bakterien lahmzulegen und sich damit einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Antivitamin und Vitamin unterscheiden sich in nur einem einzigen zusätzlichen Atom und es war unklar, warum diese kleine Veränderung über Leben und Tod der Bakterien entscheidet. Unsere Studie konnte diese Frage klären. 

Welche neuen therapeutischen Ansätze eröffnet die Wirkung des Antivitamins?

Die antibiotische Wirkung des von uns untersuchten Antivitamins resultiert aus der Hemmung von Enzymen aus dem Zentralstoffwechsel. Die entsprechenden Enzyme aus Bakterien binden das Antivitamin, da sie nicht zwischen Vitamin und Antivitamin unterscheiden können. Das bereits erwähnte zusätzliche Atom des Antivitamins hemmt diese Enzyme und bringt den Stoffwechsel der Bakterien zum Erliegen. Menschliche Enzyme hingegen binden das Antivitamin entweder gar nicht oder funktionieren auch mit dem Antivitamin, der Stoffwechsel wird nicht beeinträchtigt. Die unterschiedliche Wirkung des Antivitamins auf bakterielle und menschliche Proteine eröffnet die spannende Möglichkeit, das Antivitamin als Antibiotikum einzusetzen. Allerdings ist der Weg dorthin noch weit, das Potential des Antivitamins muss zunächst in Zellstudien und später in klinischen Studien getestet werden.


Atomare Struktur des Antivitamins und Wirkung auf bakterielle und humane Enzyme



Die Studie ist eine Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaflter*innen des Göttinger Zentrums für Molekulare Biowissenschaften an der Universität Göttingen, des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie Göttingen sowie Texas A&M University (USA). Welche Erfahrungen und Kompetenzen wurde bei dieser Zusammenarbeit aus den verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen jeweils eingebracht?

Die beteiligten Arbeitsgruppen haben komplementäre Expertisen eingebracht und damit die Studie auf eine Qualitätsstufe gehoben, die eine einzelne Gruppe schwerlich erreichen kann. Tadgh Begley von der Texas A&M University hat die Biosynthese des Antivitamins untersucht und frisch hergestelltes Antivitamin für die Untersuchungen bereitgestellt. Wir haben dann hier in Göttingen Experimente mit bakteriellen und menschlichen Enzymen durchgeführt, um den Wirkmechanismus des Antivitamins aufzuklären. Dazu sind wir auch an das Deutsche Elektronen-Synchrotron (DESY) nach Hamburg gefahren, um hochaufgelöste dreidimensionale Strukturen der mit dem Antivitamin „vergifteten“ Stoffwechselenzyme zu bestimmen. Bert de Groot und sein Mitarbeiter Matteo Aldeghi vom Göttinger Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie haben dann Moleküldynamiksimulationen an wichtigen bakteriellen und humanen Enzymen durchgeführt, um die unterschiedliche Wirkung des Antivitamins auf Bakterien und Menschen besser zu verstehen. Die gemeinsame Projektarbeit war extrem spannend und hat allen Beteiligten Freude bereitet (so hoffe ich).

Originalveröffentlichung: Structural basis for antibiotic action of the B1 antivitamin 2′-methoxy-thiamine. Nature Chemical Biology (2020). Doi: https://doi.org/10.1038/s41589-020-0628-4

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