Die Welt hinter der Keilschrift

Im Gespräch mit Prof. Dr. Annette Zgoll, Direktorin des Seminars für Altorientalistik an der Universität Göttingen, geht es um ein neues Verständnis für die Welt der Keilschrifterfinder sowie um die Rekonstruktion ältester Mythen und Rituale. Ihre jüngst veröffentlichten Forschungsergebnisse stellen das Wissen um die Hochkultur der Schrifterfinder (ab ca. 3.500 v. Chr.) auf eine neue Basis.

Frau Zgoll, Sie beschreiben Ihr Forschungsgebiet als ein „weites Feld für Menschen mit Forscherdrang, die etwas über den Menschen am Anfang der Geschichte erfahren wollen“. Was fasziniert Sie an der Altorientalistik?

Die Altorientalistik erforscht die Welt der Schrifterfinder, nämlich die Welt der Keilschrift. Diese Welt entpuppt sich als die Welt der ältesten Mythen der Menschheit und zugleich die Welt des ältesten namentlich bekannten Autors der Menschheit, einer Hohepriesterin namens En-hedu-ana, die ca. 2300 v. Chr. lebte.

Durch beeindruckende Forschungsleistungen von Kolleg*innen innerhalb der letzten Jahrzehnte ist jetzt die Bedeutung der meisten Wörter und der Grundlagen der Grammatik deutlich geworden, sowohl für das Babylonisch-Assyrische, das auch Akkadisch genannt wird, als auch jüngst für das Sumerische, eine Sprache, die mit keiner anderen verwandt ist. Das bedeutet, dass wir jetzt intensiv über die Bedeutung der Wörter und Texte und über die Vorstellungen in dieser Kultur forschen können, die ja die Wiege unserer eigenen Kulturen ist: Von hier sind die Schrift, das Rad, die 360-Grad-Einteilung, die Lesung des Himmels als Sternbilder und vieles mehr zu uns gekommen, von hier sind Vorstellungen und Erzählungen des antiken Griechenland und der Bibel geprägt worden.

Wir haben also direkte Beziehungen zu dieser Kultur, zugleich aber hat sich durch meine Forschungen gezeigt, dass diese Kultur auch uns fremde, faszinierende Vorstellungen hat. Diese können uns auch heute inspirieren, zum Beispiel das dynamische Menschenbild, das den Menschen als Haus betrachtet, in dem seine eigenen Seelen- und Geistteile sich aufhalten (und von wo sie während Träumen oder nach dem Tod auch weggehen können), wo aber auch Dämonen oder Schutzgottheiten Wohnung nehmen können. Wer hier gern tiefergehende Einblicke erhalten möchte, dem empfehle ich diese Videos auf unserem YouTube-Kanal.

Alabasterscheibe mit Abbildung und Inschrift, die aus der Zeit um ca. 2300 v. Chr. stammt. Die Priesterin En-hedu-ana, deren Name sich in Keilschrift auf der Rückseite der Scheibe findet, ist, wie die Forschungen von A. Zgoll zeigen, die früheste namentlich bekannte Autorin der Welt (vgl. Zgoll A. 2024, En-ḫedu-ana: The birth of literature through the goddess, Iraq 86, 153-179. (Open Access https://doi.org/10.1017/irq.2024.22). Die Scheibe, deren Fundort die altmesopotamische Stadt Ur ist, hat eine Breite von rund 25 Zentimetern.

Als einer der rätselhaftesten Begriffe der mesopotamischen Kultur gilt das sumerische Wort ME, zu dem Sie innerhalb Ihrer Mythos-Forschungsgruppe intensiv geforscht haben. In Ihrem vor kurzem erschienen Buch „Rituale. Schlüssel zur Welt hinter der Keilschrift“ führt das Verständnis dieses Wortes zu einer neuen Deutung der Keilschrift-Kultur der Sumerer und Babylonier. Erzählen Sie uns, was sich dahinter verbirgt?

Durch langjährige Forschungsprojekte und mithilfe genauer philologischer Analysen und neuer Methoden der Erzählstoff-Forschung, der Hylistik, die in Göttinger Mythosforschungsgruppen entwickelt worden sind, hat sich endlich die Bedeutung des bisher nie einheitlich verstehbaren Wortes ME erschließen lassen. Man hatte es bislang entweder konkret wie “Kronen” oder abstrakt wie “Ämter, Ideen, Normen” oder sogar “Archetypen” aufgefasst. Dieses Wort erscheint überall, wo es um die wichtigsten und mächtigsten Größen des Landes geht: um Götter, Tempel und Könige. Seine Bedeutung hat sich als “Ritual” erweisen lassen, gemeint ist “Ritual” als Ablauf von Worten und Handlungen zur Interaktion mit Gottheiten. Die früheren Übersetzungen haben alle etwas eingefangen, was ein Teil der mesopotamischen Vorstellungen von “Ritual” war. Zugleich haben sich weitere Wort-Bedeutungen präzisieren lassen, wie zum Beispiel ein Wort für “Macht”, das bislang als “Schicksal” aufgefasst wurde, oder ein Wort für “Ritual-Niederschriften”, das bislang als “Zeichnungen, Baupläne” gedeutet wurde. Damit lassen sich nun viele bislang unverständliche Stellen in berühmten Texten des antiken Mesopotamien verstehen, was wiederum Auswirkungen auf unser Verständnis der Kultur überhaupt hat.

Welche Zugänge ergeben sich aus diesen Entdeckungen für die frühesten Rituale und Mythen der Menschheit?

Durch die neuen Übersetzungen lassen sich die bislang verloren geglaubten sumerischen Ritualtexte identifizieren und damit die frühesten heiligen Texte und Mythen der Menschheit. Dabei zeigt sich, dass die Ritualspezialist*innen von damals ganz andere Vorstellungen von der Ritualtheorie und Ritualpraxis hatten als wir heute. Die Welt war ihrer Vorstellung nach durch und durch von Ritualen geprägt. Diese Rituale waren der kostbarste Besitz der höchsten Götter, sie bildeten die Grundlage ihrer Macht. Demzufolge mussten sie geheim gehalten werden. Die rituellen Lieder besingen die mythischen Heldentaten dieser Gottheiten: Manche Götter wie zum Beispiel die mächtigste Göttin Innana/Ištar oder der Ritualgott Enki/Ea nahmen sogar zeitweilig den Tod auf sich, um Rituale aus entfernten kosmischen Räumen wie zum Beispiel der Unterwelt zu erringen. Rituale konnten aber auch durch den Gesang von Göttern entstehen, so erfand die Göttin Nissaba eigens die Schrift für die Sicherung der Rituale – hierzu findet sich auf dem YouTube-Kanal der Universität auch ein Vortrag von mir. Rituale waren umkämpft und wurden wie der eigene Augapfel beschützt.

Insgesamt zeigt sich eine Hochkultur, die uns heute herausfordern kann: Anstelle des heutigen Paradigmas vom genauen Messen auf Basis der objektiven Zahl steht in der mesopotamischen Kultur das Paradigma des genauen Rituals auf Basis des wirkmächtigen Götterwortes. Beide Ausrichtungen haben ihre je eigenen Vorteile und Defizite, je nachdem, ob man eher auf die materielle Welt oder auf soziale und psychische Gegebenheiten einwirkt.

Zum Abschluss hier noch ein kleiner Tipp zum Weiterlesen: Ein aktueller Beitrag über ein Gedicht, das vor rund 4300 Jahren von der mesopotamischen Priesterin und Königstochter Enheduana verfasst wurde und in dem Prof. Zgoll zitiert wird, findet sich in der Zeitschrift Spektrum.

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