„Ideenlosigkeit der dominanten Politik“

Sabine Hess – Foto: Klein und Neumann

Vor zehn Jahren wanderten laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rund 890.000 Schutzsuchende nach Deutschland ein. Sie kamen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Seitdem haben sich Stimmung und Migrationspolitik in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verändert. Prof. Dr. Sabine Hess, Direktorin des Zentrums für Globale Migrationsforschung (CeMig) der Universität Göttingen, spricht hier über Erklärungen und die Herausforderungen für ihr Fachgebiet.

Vor zehn Jahren vernetzte sich die Migrationsforschung in Göttingen. Daraus entstand schließlich das CeMig, an dem sich sechs Fakultäten und das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften beteiligen. Was können Sie mit einer solch vernetzten Forschung bewirken?

Der Mehrwert dieser Vernetzung lässt sich gut verdeutlichen am Beispiel unseres gerade bewilligten Graduiertenkollegs „Mobilitätsrechte im globalen Kontext multipler Krisen“, das ich in intensiver Zusammenarbeit mit elf Kolleg*innen aus den Sozial-, Kultur- und Rechtswissenschaften auf den Weg gebracht habe. Ausgangspunkt ist die enorme rechtliche Komplexität in vielen migrationspolitischen Feldern, die wir nur verstehen werden, wenn wir miteinander sowohl geltendes Recht aus Perspektive der klassischen Rechtswissenschaften anschauen als auch, wie ich als politische Anthropologin, gelebtes Recht analysieren, also die Auslegungen oder Umsetzungen von Recht. Zudem können wir nur zusammen ein derart breites Spektrum an Themen in den Blick nehmen, was es den Doktorand*innen erlaubt, Verknüpfungen zwischen ihren Forschungsfeldern zu erkennen und nachzugehen. So lassen sich Regelungen im Aufenthalts- oder Strafrecht heute oft nicht mehr von sozial- und arbeitsrechtlichen Faktoren trennen.

Im Jahr 2015 waren die Grenzen zunächst offen und die Gesellschaft hieß mehrheitlich die Geflüchteten willkommen. Dann kamen geschlossene Grenzen und Pushbacks, zum Beispiel auf der sogenannten Balkanroute, überfüllte Flüchtlingslager und ebensolche Boote im Mittelmeer. Seit einigen Jahren gibt es wieder Grenzkontrollen auch innerhalb der EU, aktuell wird bei uns über Abschiebungen und Zuzugsbeschränkung diskutiert. Wie lässt sich diese Entwicklung im Kern erklären?

Aus dieser Entwicklung, die vor allem auf Verschärfung von Kontrollen, Abbau von Rechten und Abschreckung von Fluchtmigrant*innen setzt, spricht letztlich eine Ideenlosigkeit der dominanten politischen Strömungen, wie mit den globalen Herausforderungen steigender erzwungener Migrationsbewegungen menschenrechtsbasiert umgegangen werden kann. Dabei sind sie mehr oder weniger ja Ergebnis der wirtschaftlichen und militärischen Politik des Westens und seiner kolonialen Eroberungen und Plünderungen, die teils bis heute Erdstriche für seinen Rohstoff- und Landhunger unbewohnbar machen. Die Klimakrise ist da noch gar nicht eingepreist.

Seit 2015 haben die Mitgliedsstaaten der EU nicht zu einer solidarischen, menschenrechtsbasierten Aufnahmepolitik zurückgefunden. Vielmehr haben rechtspopulistische und autoritär regierende Kräfte wie in Ungarn, der Slowakei, Polen, Dänemark, den Niederlanden wie auch zunehmend in Deutschland es geschafft, Migration darzustellen als „Mutter aller politischen Probleme“, so der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018. Auch hierbei konnten sie auf historische rassistische Einstellungen und Problematisierungsnarrative zurückgreifen, die auch die Mitte-Regierungen der vergangenen Jahrzehnte selbst immer wieder ausgespielt haben. Dabei ist es genau diese Ideenlosigkeit einerseits und der Rassismus andererseits, die es möglich machen, dass das Leid, die Schmerzen und der Tod von zigtausenden Fluchtmigrant*innen nicht mehr berührt – trotz immer gefährlicherer und aufgerüsteter Fluchtrouten in Folge der Abschottungspolitik.

In der Reihe „Grenzregime in Bewegung – Zur Neuordnung von Europa, Migration und Arbeit zehn Jahre nach dem Sommer der Migration“ diskutieren Wissenschaftler*innen aktuelle Fragen. Was muss die Migrationsforschung Ihrer Meinung nach in Zukunft leisten?

Sie darf sich durch die Problematisierungsnarrative und rechtspopulistische Politisierung des Themas nicht von ihrer soliden, empirischen, evidenzbasierten Forschung abbringen lassen, die auf die Komplexität des Themas und durchaus auf große soziale, wirtschaftliche und politische Herausforderungen hinweist: wie Ankommen und Aufnahme sozial gestaltet werden können, wie das Bildungssystem inklusiv umgebaut oder wie Verlustängsten und völkischen Gesellschaftsvorstellungen entgegengewirkt werden müsste. Doch vor allem geht es darum, dass die Wissenschaft ihre aufklärerische Rolle und ihren Bildungsauftrag ernst nimmt, wieder zu so etwas beizutragen, was man noch vor ein paar Jahren als Weltinnen- und Friedenspolitik diskutiert hat. Ausgehend von dem Wissen, dass die Welt so hochgradig vernetzt ist und wir nur diesen Planeten haben.

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