In welcher Reihenfolge werden Patient*innen behandelt, wenn es medizinische Engpässe gibt und die Kapazitäten nicht für alle gleichzeitig reichen? Mit dieser Frage hatte sich die Bundesregierung während der Corona-Pandemie beschäftigt und Ende 2022 entsprechende Regeln im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben. Wegen der fehlenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes hat das Bundesverfassungsgericht nun fast drei Jahre später das Gesetz wieder gekippt. Zwei Gruppen von Mediziner*innen – der Marburger Bund und ein Kreis von Intensivmediziner*innen aus dem ganzen Bundesgebiet – hatte gegen die Regeln erfolgreich Verfassungsbeschwerde eingelegt. Verfasst und begleitet wurden beide Beschwerden von Juristen der Universität Göttingen – Prof. Dr. Gunnar Duttge und Prof. Dr. Frank Schorkopf.
Herr Duttge, wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Bestreben, gegen die Gesetzesänderung Verfassungsbeschwerde einzulegen, in Berührung gekommen?
Als einziges juristisches Mitglied der Sektion Ethik der für Fragen der Intensiv- und Notfallmedizin federführenden medizinischen Fachgesellschaft DIVI war ich seit Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 ständiger Ansprechpartner zur Frage einer eventuellen Regulierung. Innerhalb weniger Wochen entstand aus den ersten Diskussionen eine ärztliche Leitlinie als Orientierung für alle Intensivmediziner*innen in Deutschland. Im weiteren Verlauf entbrannte zunächst die rechtswissenschaftliche („Einstellen von Intensivmedizin zugunsten anderer als aktive Tötung?“) und dann die rechtspolitische Debatte, als das Bundesverfassungsgericht in seiner „Triage-I-Entscheidung“ im Dezember 2021 eine gesetzliche Regelung anmahnte.
Der schließlich ein Jahr später im Dezember 2022 in Kraft getretene § 5c des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) widersprach in zentralen Punkten der vorherigen ärztlichen Leitlinie und war daher ständiger Gegenstand von kritischen Debatten innerhalb der Ärzt*innenschaft. Im Spätsommer 2023 – vor Ablauf der für Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze geltenden Ein-Jahres-Frist – trat ein Kreis von Ärzt*innen der DIVI an mich heran, um die Möglichkeiten rechtlicher Abhilfe zu diskutieren. Daraus resultierte letztlich der konkrete Auftrag, eine Verfassungsbeschwerde gegen § 5c IfSG auszuarbeiten, dem ich schließlich gemeinsam mit einem Kooperationspartner aus der juristischen Praxis, Rechtsanwalt Dr. Tobias Weimer in Mülheim a.d. Ruhr, fristgerecht nachkam.
Während der Erstellungsphase fragte bei uns auch der „Marburger Bund“ nach der Möglichkeit eines „Anschlusses“ an, was die von mir vertretene „unabhängige Ärztegruppe“ jedoch nicht billigte. In der Folge wurde daher parallel eine zweite Verfassungsbeschwerde von meinem Fakultätskollegen Prof. Dr. Frank Schorkopf ausgearbeitet. Später verband das Bundesverfassungsgericht dann praktischerweise beide Verfassungsbeschwerden zu einer gemeinsamen verfassungsrechtlichen Prüfung.
Wie muss ich mir als Laie ein solches Verfahren, das ja mehrere Jahre dauern kann, vorstellen?
Die zentrale Aufgabe besteht darin, die verfassungsrechtlichen Angriffspunkte gegen das Gesetz im Sinne der ärztlichen Mandant*innen ausfindig zu machen und in einer sehr ausführlichen Niederschrift detailliert auszuarbeiten. Die zentralen Einwände gegen § 5c IfSG lagen dabei in der vollständigen Vernachlässigung der ärztlichen Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG), in der Abweichung vom Selbstverständnis intensivmedizinischer Prognoseentscheidungen in der täglichen klinischen Praxis, im Verfehlen der eigentlichen Aufgabe zur Schaffung von Verteilungsgerechtigkeit und in der Rechtsunsicherheit bezüglich der Folgen bei Missachtung der gesetzlichen Vorgaben. Computerbasierte Simulationsmodelle hatten zudem gezeigt, dass die Gesamtsterblichkeit infizierter Patienten bei Beachtung des Gesetzes voraussichtlich deutlich höher gewesen wäre im Vergleich zu jedem anderen Allokationsmodell.
Unmittelbar ein parlamentarisch (mehrheitlich) verabschiedetes und damit demokratisch legitimiertes Gesetz anzugreifen unterliegt zudem erhöhten Zulässigkeitsvoraussetzungen, die in einer Verfassungsbeschwerde eingehend behandelt werden müssen. Hier ging es vor allem darum, konkret und anhand von Fakten darzulegen, warum trotz zwischenzeitlichem Abebben der Corona-Pandemie jederzeit mit einer neuen Krisenlage auf deutschen Intensivstationen gerechnet werden muss. Auch ist verfahrensrechtlich der direkte Weg zum Bundesverfassungsgericht ohne vorheriges Durchlaufen der gerichtlichen Instanzen nicht selbstverständlich. Schließlich legte unsere Verfassungsbeschwerde besonderen Wert auf eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Bundestag überhaupt ein solches Gesetz verabschieden darf und nicht die Landesparlamente. Und diese Frage war für den Beschluss des ersten Senats vom September 2024 („Triage-II“) letztlich auch diejenige, die zur Nichtigkeitserklärung geführt hat.
Zuvor hatte jedoch die Bundesregierung Gelegenheit, zu beiden Verfassungsbeschwerden Stellung zu nehmen, was sie mit einem ebenfalls sehr umfangreichen Schriftsatz im Januar 2024 auch getan hatte. Zudem wurden weitere Institutionen um Stellungnahmen gebeten, weitere Schriftsätze gingen dem Bundesverfassungsgericht ohne gezielte Aufforderung zu (so beispielsweise durch den Rechtsbeistand der zur „Triage-I-Entscheidung“ führenden Verfassungsbeschwerde). Diese sehr umfangreichen, detaillierten verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung mit der Verfassungsbeschwerde verlangen nach einer detailliert ausgearbeiteten Widerlegung, was also auf unserer Seite de facto einen zweiten großen Schriftsatz veranlasste.
Die nachfolgenden Optionen des Bundesverfassungsgerichts waren, entweder die Verfassungsbeschwerde für unzulässig zu erklären, ihre Annahme mangels grundsätzlicher Bedeutung anzulehnen oder eben in der Sache zu entscheiden, entweder nach einer öffentlichen Anhörung oder ohne eine solche. Im hiesigen Fall bedurfte es aus Sicht des ersten Senats keiner öffentlichen Verhandlung, mit der viele gerechnet hatten, weil die Gesetzesvorschrift des § 5c IfSG schon wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes für nichtig erklärt wurde.
Wie sieht denn jetzt die Zukunftsperspektive nach der Nichtigkeitserklärung des Triage-Gesetzes aus?
Wohl für viele, jedenfalls für die Bundesregierung und den Bundestag überraschend, sind jetzt also die 16 Landesparlamente aufgerufen, jeweils eine gesetzliche Triage-Regelung für den künftigen Fall einer akuten Ressourcenknappheit infolge einer Gesundheitskrise ins Werk zu setzen. Zuvor wird die Bundesgesundheitsministerin sicherlich aber nochmals prüfen, ob für eine modifizierte Gesetzesregelung nicht vielleicht doch noch eine Bundeskompetenz zu finden sein könnte. Auch wäre es theoretisch denkbar, die Verfassung zu ändern, um die Bundeskompetenz neu zu schaffen. Andernfalls bleibt es den Länderparlamenten vorbehalten, sich der – komplexen – Materie anzunehmen.
Ein daraus entstehender „juristischer Flickenteppich“ (diesseits und jenseits der Landesgrenze gelten unterschiedliche Regeln) muss aus Patient*innen- wie aus ärztlichem Interesse unbedingt vermieden werden. Eine Verständigung der Landesgesundheitsminister*innen auf einen gemeinsamen „Musterentwurf“ wäre hilfreich. Die erfolgreich klagenden Ärzt*innen erhoffen sich als Resultat dieses neuen Anlaufs eine Regelung, die ihre Fachexpertise und Erfahrung bei der Prognostizierung der Überlebenswahrscheinlichkeit bei schwerstkranken Patient*innen respektiert und sich – zum Wohle ihrer Patient*innen – auf einen Rahmen mit den zentralen Kriterien beschränkt, also nicht aufs Neue ein „juristisches Bürokratieungeheuer“ hervorbringt.

