Zwischen Theorie und Praxis

Glatthaferwiese im Suedschwarzwald - Foto: Bettina Tonn

Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Landwirt*innen verzichten auf Dünger und häufiges Mähen, säen stattdessen mehr Arten aufs Grünland – und ihre Kühe produzieren trotzdem die gleiche Menge Milch. Das ist das Ergebnis einer Studie, die im vergangenen Jahr auch in der Politik Aufsehen erregt hat. Doch ist die Studie wirklich eins zu eins auf die Praxis anwendbar? Prof. Dr. Johannes Isselstein und seine Kolleg*innen aus der Abteilung Graslandwissenschaft der Universität Göttingen meinen: Nein.

Herr Isselstein, warum sind Sie auf die Idee gekommen, diese Studie genauer anzusehen?

Unsere Arbeitsgruppe beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Landwirt*innen Artenvielfalt im Grünland erhalten und gleichzeitig profitabel wirtschaften können. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass es dafür oft keine einfachen Lösungen gibt, vor allem bei der Haltung von Milchkühen, die sehr energiereiches Futter benötigen. Die Aussage der Studie, dass allein das Ansäen artenreicher Mischungen ausreichen soll, um ähnliche Milchmengen zu erzeugen wie in der heute weit verbreiteten intensiven Grünlandbewirtschaftung mit artenarmen Beständen, hat uns daher verwundert. Hinzu kam, dass die in der Studie angegebene mittlere Milchproduktion von bis zu über 21.000 Liter je Hektar etwa doppelt so hoch ist wie die Spitzenwerte, die bislang auf intensiv bewirtschaftetem Grünland mit besonders günstigem Klima erzielt wurden.

Die Fachzeitschrift Nature Communications, in der auch die ursprüngliche Studie abgedruckt wurde, hat Ihre Kritik ebenfalls veröffentlicht. Was genau ist an der Studie der Kolleg*innen problematisch?

Zunächst ist das Experiment, das zur Untersuchung grundlegender ökologischer Fragen angelegt wurde, nicht mit dem Dauergrünland vergleichbar, welches in der Landwirtschaft zur Milcherzeugung genutzt wird. Es wurden auf einer ehemaligen Ackerfläche gezielt zufällige Kombinationen von 1 bis 60 Grünlandarten ausgesät, die dem Artenspektrum von Glatthaferwiesen zuzuordnen sind. Dies ist eine Grünlandgesellschaft, die maximal zwei Nutzungen je Jahr und nur mäßige Düngung erlaubt. Nicht angesäte Arten wurden regelmäßig durch Jäten entfernt. Das ist in der Realität anders: Dort ändert sich die Artenzusammensetzung des Grünlands je nach Bewirtschaftung. Arten, die besonders gut an die entsprechende Düngemenge und Schnitthäufigkeit angepasst sind, breiten sich aus, angesäte Arten, die weniger gut angepasst sind, verschwinden. Das ist auch der wesentliche Grund, warum unser Grünland heute in der Regel sehr artenarm ist: Nur wenige Arten können sich bei häufigem Schnitt und hoher Düngemenge durchsetzen. Die Autor*innen gehen davon aus, dass sich der angesäte Artenreichtum auch bei häufigem Schnitt und höherer Düngung erhalten lässt. Dem widersprechen zahlreiche Forschungsarbeiten. Die Studie selbst zeigt nur Ergebnisse des ersten Jahres mit intensiverer Bewirtschaftung und nicht, wie sich die Flächen weiterentwickeln.

Ein zweiter Kritikpunkt ist die Berechnung der produzierten Milchmenge. Bei der Fütterung von Milchkühen ist zu beachten, dass sie diese Energie nicht nur für die Produktion von Milch benötigen, sondern auch eine erhebliche Menge, um ihren eigenen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten. Zudem können sie nur eine bestimmte Menge an Futter aufnehmen. Wenn der Energiegehalt des Futters niedriger ist, können sie das also nicht dadurch ausgleichen, dass sie mehr davon fressen. Diese beiden Aspekte werden in der Studie nicht berücksichtigt. Wenn Landwirte ihre Grünlandflächen häufiger schneiden, tun sie dies vor allem, um den Energiegehalt des geernteten Futters zu erhöhen. So hatte auch in dieser Studie das Futter von viermal geschnittene Flächen einen höheren Energiegehalt als das von nur zweimal geschnittenen. Die Auswirkung, die dieser Unterschied auf die Milchproduktion von damit gefütterten Kühen hat, wird durch die in der Studie verwendete Berechnungsweise vernachlässigt. Die Konsequenz ist, dass nicht nur das Milchproduktionspotential des Futters allgemein überschätzt wird, sondern dass dieser Fehler bei den seltener geschnittenen Beständen und bei den artenreichen Beständen mit ihrem hohen Biomasseertrag besonders groß ist.

Die Politik hat das ursprüngliche Paper im Gutachten der Kommission Niedersachsen 2030 im Abschnitt „Agrar- und Ernährungswirtschaft“ zitiert. Was raten Sie denn der Politik?

Dass das Gutachten als einzige Referenz zur Grünlandbewirtschaftung gerade diese Studie zitiert, halten wir für unglücklich, da sie grundsätzliche Zielkonflikte zwischen Biodiversität und landwirtschaftlicher Produktion vom Grünland gerade nicht berücksichtigt. Ansätze, diese Konflikte zu verringern, sollten das gesamte System von Grünland, Tierhaltung, Produktion und Vermarktung im Blick haben. Grünland stellt viele Funktionen bereit, und so ist es bei entsprechender Nutzung auch möglich, Milchkühe bedarfsgerecht zu versorgen, ohne dabei schädlich auf die Umwelt zu wirken, etwa durch Nährstoffverluste oder Treibhausgasemissionen.

Dass in diesem Kontext Biodiversität nicht unbedingt immer im Vordergrund steht, heißt nicht, dass Milchviehhaltung und Biodiversität sich nicht vereinen ließen. Es belegt lediglich, dass allgemeine und vereinfachende Betrachtungen ohne einen Bezug zum gesamten Produktionssystem nicht zielführend sind. Deswegen müssen Produktionssysteme so weiterentwickelt werden, dass Umweltschonung und Schutz der biologischen Vielfalt von vorneherein als wichtige Ziele einbezogen werden. Die Politik könnte dafür geeignete Rahmenbedingungen schaffen. Dazu zählt beispielsweise, dass Landwirt*innen, die biologische Vielfalt erhalten und fördern, angemessen honoriert werden.

Studie: Sergei Schaub et al. Plant diversity effects on forage quality, yield and revenues of semi-natural grasslands. Nature Communications (2020).  https://doi.org/10.1038/s41467-020-14541-4

Kommentar von Bettina Tonn et al. Results from a biodiversity experiment fail to represent economic performance of semi-natural grasslands. Nature Communications (2021).  https://doi.org/10.1038/s41467-021-22309-7

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