Reserven an freier Zeit mobilisieren

Kinderbetreuung, die Pflege von Angehörigen oder ehrenamtliches Engagement: Es gibt viele Situationen, in denen Studium, Forschung und die Arbeit in den verschiedenen Berufsfeldern der Universität nicht immer leicht mit Familie und Privatleben zu vereinbaren sind. Ein erklärtes Ziel der Universität Göttingen ist eine Führungskultur, die Vereinbarkeit als gelebten Alltag ermöglicht. Wir haben nachgefragt bei Renate Putschbach, die in der Stabsstelle Chancengleichheit und Diversität den FamilienService und den Bereich Vereinbarkeit leitet.

In diesem Jahr ging das Präventionsprogramm für Pflegende Angehörige in die vierte Runde. Warum ist es wichtig, dass die Universität Beratung und Workshops zu diesem Thema anbietet?

Die Universität hat zahlreiche Beschäftigte und vermutlich eine etwas kleinere Zahl von Studierenden, die eine nahestehende Person zumindest zeitweise pflegen oder die Organisation der Pflege übernehmen. Schon aufgrund der Alterung der Gesellschaft und den unzureichenden öffentlichen Versorgungsangeboten nimmt der Anteil derjenigen, die im familiären Rahmen pflegen, immer mehr zu. Die ersten Fragen, die sich Beschäftigte in einer solchen Situation stellen, hängen nach meiner Erfahrung stark mit dem Arbeitsplatz zusammen: Was muss ich tun, um mich kurzfristig freistellen zu lassen? Was mache ich bei einer länger andauernden Pflegesituation – kann ich meine Arbeitszeit und meinen Arbeitsort flexibler gestalten? Neben personalrechtlichen Regeln werden also Absprachen mit der Führungskraft zentral.

Das Präventionsprogramm umfasst Beratung und Workshops, in denen hilfreiche rechtliche Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten vermittelt werden. Es bietet daher eine gute Entlastung und Unterstützung für alle Seiten. Darüber hinaus signalisiert die Universität mit diesem Angebot, dass Beschäftigte in ihrer Lebenssituation gesehen und als Mitarbeiter*innen weiterhin geschätzt werden.

Sie informieren und beraten zu Fragen der Vereinbarkeit. Welche Themen brennen den Beschäftigten denn auf den Nägeln?

Der FamilienService wird von Personen jeglichen Alters, Geschlechts und Statusgruppe in Anspruch genommen. Deutlich ist, dass Vereinbarkeitsthemen in sehr unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen formuliert werden. Bei manchen stehen Gesundheitsprävention oder Fortbildung im Vordergrund, bei anderen die Organisation des Pendelns zwischen Wohn- und Arbeitsort. Viele kommen mit Fragen zum Thema Schwangerschaft und Elternzeit oder eben auch zur Pflege von Angehörigen. Letztendlich geht es fast immer darum, Reserven an freier Zeit zu mobilisieren – sowohl für die Arbeit als auch für Privates.

Die meisten Anfragen kommen aber von Beschäftigten mit Kindern. Die Nachfrage nach Kinderbetreuungsangeboten und der Mangel an Kitaplätzen in Göttingen sind ein Dauerthema. Die Pandemie hat die Betreuungssituation zusätzlich verschärft. Durch Kita- und Schulschließungen haben insbesondere Wissenschaftler*innen mit Kindern viel Zeit für die eigene Qualifikation verloren, die sie bis heute kaum aufholen konnten.

Aktuell gibt es darüber hinaus viele Anfragen zur neuen Dienstvereinbarung Mobile Arbeit. Beschäftigte haben während der Pandemie viele Vorteile des Homeoffice erfahren. Sie nennen zum Beispiel kein zeitintensives Pendeln, mehr Flexibilität bei der Arbeitsgestaltung, erleichterte Vereinbarkeit von Arbeit und Pflege. Für manche hat dies ihre alltäglichen Vereinbarkeitskonflikte deutlich entschärft. Dementsprechend ist die Enttäuschung groß, dass die Flexibilität durch die neuen Regelungen wieder stärker begrenzt ist.

Sie unterstützen auch Fach- und Führungskräfte in den Fakultäten, Instituten und Abteilungen dabei, vereinbarkeitsfördernde Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Was muss denn die Universität mit all ihren Einheiten bieten und leisten, um zu einer gelebten Alltagskultur der Vereinbarkeit zu kommen?

Eine gelebte Alltagskultur, die Vereinbarkeit ermöglicht, muss auf mehreren Ebenen ansetzen. Auf der individuellen Ebene, das heißt in jedem einzelnen Arbeitsverhältnis, braucht es Führungskräfte, die für Vereinbarkeitsanliegen offen sind, die Handlungsspielräume gewähren und Vereinbarkeit fördern. Auf der strukturellen Ebene spielen gute Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Beispiele sind flexible Arbeitszeitmodelle, planbare Karrierewege in der Wissenschaft, Verträge und Leistungsbewertungen, die Kinderbetreuungs- und Pflegeverpflichtungen, aber auch krankheitsbedingte Ausfälle angemessen berücksichtigen sowie Vorlesungszeiten und Prüfungsphasen, die nicht parallel zu Schul- und Kitaferien laufen oder vereinbarkeitsorientierte Gremien- und Sitzungszeiten. Auf der kulturellen Ebene wünsche ich mir ein Arbeitsethos, das Vereinbarkeitsanforderungen sichtbar macht, unabhängig vom Grad der eigenen Betroffenheit. Wenn wir ein Klima schaffen, in dem es selbstverständlich ist, sich mit Vereinbarkeitsfragen auseinanderzusetzen und niemand aufgrund von Vereinbarkeitsanliegen Nachteile befürchtet, dann sind wir einen großen Schritt vorangekommen.

Eltern-Kind-Zimmer im Lern- und Studiengebäude – Foto: FamilienService

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