„Jede Impfkampagne ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon“

Prof. Dr. Matthias Klumpp ist Pharma-Logistik-Experte und vertritt derzeit die Professur für Produktion und Logistik an der Universität Göttingen. Er erklärt, warum er bezüglich der Coronavirus-Impfkampagne in Deutschland zuversichtlich ist, dass die Logistik gut laufen wird, und warum wir trotzdem erst mal weiter Abstand halten müssen.

Die Corona-Impfstrategie nimmt langsam Gestalt an. Gibt es eine Blaupause in der Geschichte der Pharmalogistik, auf die man zurückgreifen kann, oder betreten wir damit komplettes Neuland?
In zwei Punkten wird tatsächlich Neuland betreten. Das ist zum einen die Notwendigkeit, einige – nicht alle – Impfstoffe bei minus 70 Grad Celsius aufzubewahren. Dies gab es für Impfstoffe noch nicht. Zum anderen ist auch ein Stück weit neu, dass möglichst weltweit viele Menschen schnell mit einer Impfung versorgt werden sollen. Der Zeitraum ist dabei vergleichsweise kurzfristig – die globale WHO-Impfkampagne gegen das Polio-Virus dauerte beispielsweise elf Jahre, von 1988 bis 1999. Eine weltweit erfolgreiche Impfkampagne gegen Covid-19 wird mindestens ein bis zwei Jahre dauern. Für Länder mit gut entwickelter Infrastruktur wie in Europa sind sechs bis 12 Monate anzusetzen. Es liegen aber genügend vergleichbare Erfahrungen aus verwandten Bereichen wie der Tiefkühl-Lebensmittellogistik oder dem Pharma-Großhandel mit anderen Präparaten vor. Ich gehe nicht davon aus, dass größere bzw. längerfristige Engpässe in der Logistikkette auftreten werden. Es ist jedoch Vorsicht geboten vor überzogenen Erwartungen: Der wesentliche Erfolgsfaktor einer Covid-Impfkampagne, insbesondere in Deutschland, wird die Impfbereitschaft sein – so wurden zum Beispiel bei den Influenza-Impfungen in der Vergangenheit nie die volle Zahl der bereitgestellten saisonalen Impfdosen genutzt. Und die Verteilung von bis zu 22 Millionen Influenza-Impfdosen innerhalb weniger Monate konnte immer effizient realisiert werden. Es ist zudem auch klar zu sagen, dass die aktuellen sozialen Abstands- und Absicherungsmaßnahmen gegen Covid-19 noch bis zu sechs Monaten notwendig sein werden – jede Impfkampagne ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon.

Der ARD sagten Sie, Sie seien zuversichtlich, dass für die Corona-Impf-Strategie in Deutschland genügend Spritzen, Kanülen und Tiefkühlschränke zur Verfügung stehen werden. Da ja auch viele andere Länder Bedarf haben – was macht Sie so zuversichtlich?
Mehrere Punkte sind aus Expertensicht zumindest für Deutschland sehr positiv zu bewerten – und können für andere Länder auf anderen Kontinenten in einer Evaluation ganz anders ausfallen: In Deutschland besteht erstens eine ausgezeichnete Transportinfrastruktur. Dies wird jährlich von der Weltbank an Platz 1 oder 2 im globalen Vergleich gerankt, und das bei vergleichsweise geringen Transportstrecken. Zweitens verfügt Deutschland über ein exzellentes Logistik-Know-how, von der Produktion bis in die Feinverteilung der letzten Meile. Das konnten wir auch im ersten Lockdown schon sehr gut beobachten, als es bis auf wenige produktspezifische Engpässe ja keinerlei Versorgungsschwierigkeiten gab, die Logistik als Gesamtsystem in Deutschland sehr gut funktioniert hat. Hier haben alle Akteur*innen in Produktion, Handel und bei den Logistikdienstleistern Hand in Hand gearbeitet, teilweise ja auch mit eigenen Quarantäne-Einschränkungen beim Personal. Drittens startet in Deutschland und in der EU bereits jetzt die zentrale politisch initiierte Beschaffung und Bevorratung der notwendigen Materialien – angesichts der Tatsache, dass Genehmigung und Produktionsanlauf der Impfstoffe in den nächsten Wochen noch bevorstehen, ist dies schon ein sehr guter Schritt. Dies könnte ergänzt werden um die Konzeptelemente „Multi-Channel-Verteilung“. Gemeint ist, dass über mehrere Kanäle wie zentrale Impfzentren, mobile Impfteams sowie auch Zugänge über Krankenhäuser und Hausarztnetzwerke geimpft wird und es zudem eine „Digitale Anwendung zur Terminsteuerung“ gibt.

Gibt es schon Prototypen für solche Impftermin-Apps und gab es einen derart umfassenden Einsatz einer App in einem vergleichbaren Fall bereits?
Vergleichspunkte gibt es in zwei Bereichen: Die Corona-App selbst ist ja eine erfolgreiche Anwendung und könnte gegebenenfalls auch um diese Funktion erweitert werden. Gleichzeitig gibt es in vielen Service-Systemen bei Arztpraxen, Werkstätten oder in anderen Kontexten bereits Apps zur Terminvereinbarung. Am Ende muss es auch kein einziges zentrales System sein. Unseres Erachtens ist es gerade aktuell nur sehr wichtig, den einzelnen Personen angesichts der gesellschaftlichen Vorbehalte eine Mitsprache zu ermöglichen – die Wahrnehmung ist entscheidend für Akzeptanz und Mitwirkung der Bevölkerung. Der Vorteil für die Logistik wäre, digital schon sehr frühzeitig Informationen zur tatsächlichen Endverwendung der Impfstoffe zu erhalten und darauf reagieren zu können. Fehlbestände und im schlimmsten Fall ein Verfall von Impfstoff-Beständen wären in der schwierigen Covid-19-Situation nicht das Ziel einer optimierten Logistik. Dafür werden klare Vorgaben als politische Entscheide hilfreich sein: beispielsweise zu den priorisierten Personengruppen und Detailinformationen der Einzelpersonen zu den gewünschten sowie möglichen Impfzeiten- und Impforten. Mit dieser Kombination lässt sich eine erfolgreiche Impfkampagne auch ohne Zwang realisieren – und damit hätten wir in Deutschland auch eine Vorreiter- und Vorbildfunktion in der Welt.

Prof. Dr. Matthias Klumpp
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