Anatomie und Aktivität von Nervenzellen erforschen

Foto: Klein und Neumann, Iserlohn

Prof. Dr. Alexander Ecker ist seit 2019 Professor für Data Science an der Universität Göttingen. Am Göttingen Campus schätzt er die ausgezeichnete Vernetzung: Er hat einen Lehrstuhl am Institut für Informatik, ist Vorstandsmitglied des Campus-Instituts Data Science (CIDAS) sowie Fellow am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und arbeitet regelmäßig mit Menschen aus sechs Fakultäten, mehreren außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Firmen zusammen. Hier spricht er über sein Forschungsfeld.

Herr Ecker, als Informatiker und Hirnforscher verbinden Sie zwei Forschungsfelder zur „Neural Data Science“. Mit welchen zentralen Fragen beschäftigen Sie sich?

Uns beschäftigt hauptsächlich die Frage, wie das Sehen funktioniert. Auf der einen Seite: Wie extrahiert unser Gehirn aus den Lichtreizen, die unser Auge aufnimmt, die Informationen, die wir bewusst oder unbewusst wahrnehmen? Auf der anderen Seite: Wie bringen wir einem Computer das Sehen bei? Hierbei arbeiten wir sehr viel mit Daten. Die Methoden, die wir entwickeln, sind oft auch jenseits der Neurobiologie nützlich, weshalb wir in den vergangenen Jahren auch verstärkt mit Kolleg*innen aus anderen Bereichen wie zum Beispiel den Kognitionswissenschaften, der Physik, der Medizin oder der Forstwissenschaft zusammenarbeiten.

Nun hat Sie der Europäische Forschungsrat (ERC) mit einem Starting Grant ausgezeichnet. Mit der Förderung – insgesamt 1,5 Millionen Euro für fünf Jahre – wollen Sie und ihr Team herausfinden, wie Form und Funktion von Nervenzellen in der Großhirnrinde zusammenhängen. Was genau haben Sie vor?

„Die Form folgt der Funktion“ – dieses Credo prägte der Architekt Louis Sullivan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er hielt es für ein universelles Naturgesetz. Ob dies allerdings auch für das Gehirn gilt, ist momentan nicht bekannt. Lange Zeit war es nur möglich, entweder die Form oder die Aktivität einer Nervenzelle zu bestimmen, nicht aber beides gleichzeitig. Dank neuer wissenschaftlicher Methoden können wir uns dieser Herausforderung nun stellen: Wir nutzen Daten einer vorangegangenen Kooperation im Rahmen der US Brain Initiative, welche die Anatomie und Aktivität von etwa 100.000 Nervenzellen des visuellen Cortex einer Maus umfassen. Mit Hilfe der ERC-Förderung wollen wir Verfahren des maschinellen Lernens entwickeln, um diese Nervenzellen mathematisch zu beschreiben, Muster in diesen Daten zu erkennen und Form und Funktion von Nervenzellen miteinander in Bezug zu setzen.

Nehmen wir mal an, es gelingt Ihnen, diese komplexen Muster zu entschlüsseln: Welche Türen könnten sich damit öffnen?

Im Gehirn gibt es eine große Zahl verschiedener Arten von Nervenzellen, die sich aufgrund ihrer Morphologie, also ihrer Form, oder genetischer Eigenschaften identifizieren lassen. Warum es diese verschiedenen Zelltypen jedoch gibt und was ihre jeweiligen Aufgaben beispielsweise bei der Verarbeitung von Bildinformation sind, ist bisher kaum verstanden. Unsere Arbeit könnte hier einen Beitrag leisten. Langfristig gedacht könnte uns ein besseres mechanistisches Verständnis des Sehsystems helfen, um erblindeten Menschen zu helfen, wieder sehen zu können. Ferner könnten die Funktionsmechanismen des Gehirns möglicherweise auch als Blaupause für bessere Algorithmen der künstlichen Intelligenz dienen.

Eine etwas längere Fassung lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der uni|inform (Seite 3) und im Jahresbericht 2021 ab Seite 51.

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