Covid-19 attackiert den sozialen Zusammenhalt

Unsere Gesellschaft steht durch die Corona-Pandemie vor enormen Herausforderungen. Die vorsichtige Rückkehr in den Alltag, die aktuell an vielen Stellen getestet wird, lässt Konflikte sichtbar werden. Der Göttinger Soziologe Prof. Dr. Berthold Vogel über die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie.

In Ihrem Beitrag im Magazin „Gegenblende“ sprechen Sie von künftigen Wohlstandskonflikten und nachhaltigen Folgen für das demokratische Gemeinwesen als Folge der Pandemie. Können Sie das kurz erläutern?

Die Folgen der Pandemie sind nicht nur virologischer, sondern insbesondere gesellschaftlicher Art. Darauf haben gerade Mediziner wie Christian Drosten bereits zu Beginn der Corona-Krise immer wieder hingewiesen. Es kann keinen Zweifel geben: Die wirtschaftliche Rezession und die kommende, massive Staatsschuldenkrise provozieren Wohlstandskonflikte. Damit meine ich Konflikte um die Verteilung des Wohlstands. Aber auch Konflikte um die Frage, was Wohlstand künftig eigentlich ausmacht. Es geht einerseits um die Fragen: Wer kommt unter Schutzschirme, wer verdient Sonderprogramme, welche Arbeitnehmergruppen sind unterstützungs- und staatsbedürftiger als andere? Bleibt es für die systemrelevanten, für die gesellschaftlich notwendigen Berufe doch nur beim vorösterlichen Coronaklatschen? Andererseits steht auch die Frage an, woran sich Wohlstand bemisst. Besteht Wohlstand darin, dass die Stadien, Strände und Autobahnen voll sind? Oder darin, dass es langfristig gelingt, resiliente und funktionsfähige öffentliche Infrastrukturen aufzubauen? Und den Menschen, die Verantwortung für öffentliche Güter tragen, ein angemessenes Arbeitsumfeld zu ermöglichen?

Entgegen anderer Stimmen, die von einer auch nach der Corona-Zeit anhaltenden Solidarität ausgehen, hegen Sie Zweifel an der Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts, den wir im Moment in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft sehen.

Ehrlich gestanden halte ich es für naiv, die Solidarität der ersten Corona-Wochen in die Zukunft zu projizieren. Wir brauchen jetzt einen klaren Blick und keine Wunschvorstellungen. Die anfängliche Solidarität war primär angstgetrieben. Schon mit der ersten Debatte um Lockerung wurde auch der Zusammenhalt locker und brüchig. Je länger die Krise anhält, umso klarer liegen wirtschaftliche und soziale Interessen offen. Bereits vorhandene Bruchlinien der Gesellschaft werden noch deutlicher. Das Virus ist kein Gleichmacher und erhöht auch nicht die Moral. Im Gegenteil: Das Virus ist ein unerbittlicher Trennungsbeschleuniger. Covid-19 attackiert den sozialen Zusammenhalt. Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates und die Vitalität öffentlicher Güter vermögen diese Attacken noch auszugleichen und politisch zu gestalten. Andere Länder trifft die virologisch befeuerte soziale Spaltung mit voller Wucht. Das Beispiel der USA ist hier besonders bedrückend, es steht aber keinesfalls alleine. Insofern müssen wir darauf vertrauen, dass die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen sorgsam mit unseren demokratischen Institutionen umgehen. Ich würde eher auf die Solidität unserer Institutionen vertrauen als auf die Solidarität aller Bürger*innen. Dieser Art von Moralgemeinschaften sollte man ohnehin misstrauen.

Welchen Forschungsfragen sollten sich die Sozialwissenschaften während und nach der Covid-19-Pandemie widmen, um der Politik wissenschaftliche Expertise zur Überwindung von demokratiegefährdenden Tendenzen durch die Corona-Krise anzubieten?
Es geht in den kommenden Jahren darum, resiliente, krisenfeste öffentliche Infrastrukturen zu schaffen. Hier braucht es Investitionen in Ausstattung und Personal. Zu diesem Thema publiziere ich seit Jahren mit Kolleg*innen. Vielleicht war es auch nicht vergeblich und wir konnten immerhin eine gesellschaftliche Grundsensibilität für öffentliche Güter erzeugen. Man ist in der Politik eben nicht umstandslos der Bertelsmann-Stiftung sowie  den geschätzten Kolleg*innen in der Leopoldina gefolgt und hat Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen in der Fläche stillgelegt. Diese (noch) vorhandene Präsenz öffentlicher Einrichtungen (dazu zählt übrigens auch die oft sehr zu Unrecht geschmähte öffentliche Verwaltung) hat in den vergangenen Monaten den Unterschied zu vielen anderen Ländern gemacht. Hier braucht es weiterhin Expertise mit Blick auf Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven. Denn gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen müssen auch für junge Leute attraktiv sein. Weiterhin müssen wir die Gruppen in den Blick nehmen, die aktuell keine Lobby haben: Menschen, die als Leiharbeitskräfte, als Werkvertragsarbeiter, als Multijobber sich und ihre Familien durchbringen müssen; und wir müssen durch Forschung die sozialen Orte ausfindig machen, die auch in Zeiten des „Social Distancing“ Zusammenhalt bieten können. In ersten Analysen sehen wir, dass man sich damit auf dem Land leichter tut als in der Stadt. Sozialforschung kann und muss hier wichtige Impulse geben und beraten.

Prof. Dr. Berthold Vogel ist geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI), einem assoziierten Partner des Göttingen Campus. Er unterrichtet Soziologie an den Universitäten Kassel und St. Gallen und ist ab 01.06.2020 Sprecher des Göttinger Standorts des bundesweiten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeits-, Staats- und Justizsoziologie sowie die Soziologie öffentlicher Güter.
Zu Vogels aktuellen Publikationen zählen der Artikel „Covid-19 und die Zukunft des Gemeinwesens“ (2020) im Debattenmagazin „Gegenblende“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds sowie die mit Jens Kersten (LMU München) und Claudia Neu (Universitäten Göttingen und Kassel) aus juristischer und soziologischer Perspektive gemeinsam verfasste Studie „Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie“ (2019)

https://gegenblende.dgb.de/artikel/++co++ded9ecfc-7290-11ea-8f86-52540088cada
https://www.hamburger-edition.de/buecher-e-books/artikel-detail/d/2461/Politik_des_Zusammenhalts_%28Print%29/2/

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