Umkämpfte Identitäten

Die Historikerin Désirée Schauz hat die Geschichte der Göttinger Akademie vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur frühen Bundesrepublik erforscht. Wie positionierten sich die Akademie und ihre Mitglieder angesichts der Umbrüche in diesem Zeitraum?

Als exklusive Gelehrtengesellschaft gegründet war das Ideal der Einheit der Wissenschaften für ihre Identität zentral. Mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaftskulturen ab Ende des Kaiserreichs wurde diese Identität jedoch zunehmend fragil; zudem gab es Spannungen zwischen den Akademien und Konkurrenz durch neue Wissenschaftsorganisationen.

Umkämpft waren die Identitäten auch, wenn wissenschaftliche Selbstbilder mit politischen Positionierungen in Konflikt gerieten. Auf die politische Zäsur des Jahres 1933 reagierte die Akademie erst, als sie sich selbst in ihrer Existenz bedroht sah. Schauz schreibt zusammenfassend: „Die Bedeutung des wissenschaftlichen Ethos war aber nicht groß genug, um ausreichend Widerstand gegen die rassistische Exklusionspolitik des NS-Regimes zu mobilisieren.“

Nach 1945 zogen sich die Akademie und ihre Mitglieder auf das vorherrschende Opfernarrativ zurück und belebten erneut das idealistische Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts.

Désirée Schauz: Umkämpfte Identitäten. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften und ihre Mitglieder 19141965, Wallstein Verlag 2022, 622 Seiten, ISBN 978-3-8353-3979-8, 49 Euro

www.wallstein-verlag.de/9783835339798-umkaempfte-identitaeten.html

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