Im Eiltempo zum Gesetz – die Pandemie als Taktgeber

Seit Beginn der Corona-Pandemie wird viel darüber diskutiert, wie die Grundrechte auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes eingeschränkt werden. Prof. Dr. Angela Schwerdtfeger, seit März 2020 Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen, forschte bereits für ihr 2017 abgeschlossenes Habilitationsprojekt zum Thema „Krisengesetzgebung“.

Sie haben untersucht, wie Krisen das Gesetzgebungsverfahren und die Gestaltung von Gesetzen beeinflussen. Wie unterscheiden sich Gesetze, die während einer Krise erlassen werden, von „normalen“ Gesetzen?
Prägend ist vor allem der Zeitdruck, unter dem staatliche Entscheidung getroffen werden müssen. Ein Krisengesetz durchläuft das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, das auf Bundesebene im Normalfall durchschnittlich über 200 Tage beansprucht, häufig in wenigen Wochen oder gar Tagen. Hierfür werden etwa verschiedene Möglichkeiten von Fristverkürzungen genutzt. Das Erste Bevölkerungsschutzgesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes in der aktuellen Pandemie benötigte nur drei Tage, das Zweite und Dritte Bevölkerungsschutzgesetz jeweils zwei Wochen. In der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise durchlief das Finanzmarktstabilisierungsgesetz das parlamentarische Verfahren in nur vier Tagen. Gleiches gilt für das im Kontext der terroristischen Aktivitäten der RAF im „Deutschen Herbst“ erlassene sogenannte Kontaktsperregesetz aus dem Jahr 1977. Außerdem nimmt in Krisen insgesamt der (ohnehin schon große) gestalterische Einfluss der Regierung gegenüber dem Parlament zu.

Schwächen des Verfahrens können allerdings durch die Gesetzesgestaltung teilweise ausgeglichen werden. So finden sich in vielen Krisengesetzen Befristungsregelungen.  Auch für die sogenannten Corona-Verordnungen ist nunmehr eine Befristung von grundsätzlich vier Wochen vorgesehen. Diese soll sicherstellen, dass die Rechtsverordnungen unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Pandemie fortgeschrieben werden. Teilweise werden in Krisengesetzen auch explizite Evaluierungspflichten aufgestellt, oder es werden Beteiligungsrechte des Parlaments an Entscheidungen der Exekutive vorgesehen. Damit kommt der Gesetzgeber einer Beobachtungspflicht nach, die das Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten herleitet. Wenn Entscheidungen auf unsicherer Grundlage getroffen werden, trifft den Gesetzgeber die Verantwortung, die weitere Entwicklung und die Gesetzesfolgen zu beobachten und gegebenenfalls nachzubessern.

Diese und weitere Phänomene des Verfahrens und der Gesetzesgestaltung lassen sich jedoch nicht ausschließlich in Krisen feststellen, sondern treten in diesen lediglich gehäuft auf. Die Krisengesetzgebung stellt also in gewisser Weise ein konzentriertes Abbild allgemeiner Entwicklungen der Gesetzgebung dar.

Allerdings können Krisen – trotz oder gerade wegen des starken Einflusses der Regierung – das parlamentarische Selbstverständnis stärken, auch wenn zu Beginn einer Krise oft der Eindruck einer Selbstentmachtung entsteht. Bei Krisenausbruch ist zumeist ein weitgehender fraktionsübergreifender Konsens für die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen festzustellen. Alle Fraktionen wollen staatliche Handlungsfähigkeit demonstrieren und nicht als Blockierer gelten. Das gilt grundsätzlich auch für die Opposition. Unter dem Eindruck einer starken Regierung drängt das Parlament als Institution im Verlauf einer Krise dann immer stärker in den Vordergrund, um sich von der Regierung abzugrenzen. Das lässt sich auch aktuell wieder beobachten. Zum einen hat das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beachtliche Änderungen erfahren. Zum anderen sind auf Landesebene derzeit in zahlreichen Bundesländern Bestrebungen der Landtage zu beobachten, eine stärkere, aktive Rolle bei der Entscheidung über die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen zu spielen.

Es gibt immer wieder Kritik, die derzeitigen Gesetze zur Bekämpfung der Corona-Pandemie würden die Grundrechte zu stark beschneiden. Stimmt das?
Nein, das trifft in dieser Allgemeinheit sicher nicht zu. Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass unsere Grundrechte in der Pandemie uneingeschränkt gelten. Sie werden zwar durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt, aber nicht suspendiert. Das ist gerade der wesentliche Unterschied zu einem Ausnahmezustand. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die staatlichen Schutzmaßnahmen einen Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten treffen müssen. Das heißt: Die Einschränkungen unserer Berufs-, Religions-, Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit, der Freiheit der Person, der Unverletzlichkeit der Wohnung und weiterer Grundrechte auf der einen Seite erfolgt zum Schutz insbesondere des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf der anderen Seite.

Dennoch ist es in der Pandemie auch zu beachtlichen Grundrechtsverletzungen gekommen. Diese sind von den Gerichten immer wieder festgestellt worden. Diese Gerichtsentscheidungen sind grundsätzlich kein Anlass zur Besorgnis, sondern im Gegenteil Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaates. Auch der Gesetzgeber hat mit den erneuten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes weitere Vorgaben für die zu treffenden Schutzmaßnahmen beschlossen, um Grundrechtsverletzungen entgegenzuwirken. Geradezu irreführend war vor diesem Hintergrund die Plakataktion der AfD im Bundestagsplenum. Teile der AfD-Fraktion hatten im Plenarsaal weiße Plakate hochgehalten, auf die das Wort „Grundgesetz“ mit einem schwarzen Trauerflor und dem Datum „18.11.2020“ gedruckt war. Eine andere Frage ist, ob die gesetzlichen Konkretisierungen der Eingriffsbefugnisse nicht schon früher hätten erfolgen müssen und ob insoweit nicht noch Luft nach oben besteht.

Wenn Sie einen Blick ins Ausland werfen: Sind die deutschen Gesetzgeber im Vergleich gut aufgestellt, um während Krisenzeiten „gute“ Gesetze zu machen?
Ich denke schon, dass der deutsche Gesetzgeber in Krisenzeiten im internationalen Vergleich gut aufgestellt ist. Das Grundgesetz sieht vor, Krisen mit Instrumenten der Normallage zu bewältigen. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte wurde bewusst auf Notkompetenzen verzichtet. Das heißt, dass auch in Krisensituationen das reguläre Gesetzgebungsverfahren zu durchschreiten ist. Dieses bietet ausreichend Flexibilität, um im Ernstfall schnell reagieren zu können. Auch wenn der Einfluss der Regierung in Krisen steigt, hat das demokratisch legitimierte Parlament die letzte Entscheidung. In anderen Staaten kann auf Krisen mit einem Staatsnotstand reagiert werden, so etwa geschehen in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder in Frankreich 2015. Ähnliche Entwicklungen konnte man in der Pandemie beobachten. Mit der damit bezweckten Effektivität staatlicher Krisenbewältigung geht ein nicht zu unterschätzendes Missbrauchspotenzial einher.

Ob allerdings Krisen die richtigen Zeiten für „gute“ Gesetze sind, wage ich zu bezweifeln. In der Gesetzgebungslehre versteht man unter einem guten Gesetz eines, das, gemessen an Kriterien wie sprachliche Gestaltung, Struktur, Bestimmung seiner Ziele und Wirkungen sowie Widerspruchsfreiheit gelungen ist. Ein gutes Gesetz in diesem Sinne braucht Zeit, die in einer Krise gerade fehlt. Aber es gibt – wie bereits erwähnt – zahlreiche Gestaltungsinstrumente, um Zeitdruck und Unsicherheiten im Entstehungszeitpunkt auszugleichen und das Gesetz in dem Sinne zu einem guten zu machen, dass es tatsächlich zur Krisenbewältigung beiträgt.

Prof. Dr. Angela Schwerdtfeger

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